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Multitude Leviathan DAO

Multitude

Die Multitude ist eine Figur, ein Konzept, eine Idee von einer Kollektivität. "Sie ist ebenso eine Versammlung [aggregation] wie eine Differenzierung [differentiation], eine Ausströmung [emanation] wie eine Kontraktion, aber weder eine Gruppe noch eine Anzahl von Individuen." (Thacker 2009, S. 62)

In Open Collectivity bezieht sich Wiedemann erstrangig auf die Multitude bei Antonio Negri und Michael Hardt, die diese in Empire. Globalization as a new Roman order, awaiting its early Christians besprechen.

Die Multitude ist allerdings auch "ein Begriff, der von Machiavelli, Hobbes, Spinoza und späteren politischen Theoretikern wie Locke und Rousseau verwendet wurde" (ebd., S. 57). Thacker führt an, dass zwischen diesen Denkern kaum Einigkeit darüber herrsche, was der Begriff bedeute (vgl. ebd., S. 57).

Zeitweise wird »Multitude« als Synonym für das, was man »Masse« oder »Volk« nennen kann, gebraucht, während zu anderen Zeiten die Multitude eine sehr spezifische politische Aufladung als konstitutive Kraft des sozialen und politischen Lebens selbst erfährt.

-- (ebd., S. 57)

Cicero verwendet den Begriff in De re publica: "Est igitur, inquit Africanus, res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus." (Cicero 2013, Buch 1 Kap. 39)

In Netzwerke - Schwärme - Multitudes arbeitet Thacker trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Uneinigkeit über das Wesen der Multitude eine Art Katalog über ihre Eigenschaften heraus. Allen Eigenschaften voran, erklärt Thacker: "Was auch immer der Fall sein mag, die Multitude scheint immer »quer« zu ihren eigenen Voraussetzungen zu stehen; denn sie konstituiert eine soziale und politische Ordnung und widersteht dieser gleichzeitig." (Thacker 2009, S. 58)

Für die Untersuchungen in dieser Arbeit sind vor allem der Widerspruch (Differenz), die Vielheit - bestehend aus Singularitäten -, das Interesse und der Vollzug einer stetigen Transformation interessant:

Thacker beschreibt die Multitude als etwas, das vor allem mit seiner eigenen Konstitution, mit ihrer Fähigkeit beschäftigt sei, "sowohl dem Konsens als auch dem Dissens einen Raum zu geben." (vgl. ebd., S. 59) Sie sei eine Mannigfaltigkeit [multiplicity] von Singularitäten, eine Differenz, die eine Wiederholung sei, eine Kontraktion und eine Expansion, eine Systole und eine Diastole. (vgl. ebd., S. 60) Sie sei dadurch gehindert, eins zu werden, dass sie durch eine Vielfalt von Interessen, Affekten und Relationen bestimmt sei. (vgl. ebd., S. 60) Sie besitze keinen Gesellschaftsvertrag und sei nicht als im Moment gegebene Einheit-durch-Konsens konstituiert. Ihre vielfältigen Interessen decken sich höchstens in einer äußerst flüchtigen, vernetzten Form. (vgl. ebd., S. 60) Insbesondere ihre "Opposition zur Tradition des Gesellschaftsvertrags" stellt Thacker als "durchgängigste[s] Merkmal gegenwärtiger Theorien der Multitude" heraus. (vgl. ebd., S. 60) Es leuchtet daher ein, wenn "[d]ie Frage, die sich die Multitude stellt, lautet: »Kann die Multitude sich selbst regieren?« anstelle der Frage, die der Multitude gestellt wird: »Ist die Multitude regierbar?«" (ebd., S. 63)

Multitude und Open Collective

Thacker fragt "Existiert die Multitude heute, oder ist sie eine politische Vision von etwas »Kommendem«?" und stellt fest, "Demokratie impliziert keine Multitudes und eigentlich ist eines der wesentlichen Angriffsziele der Multitude die repräsentative Demokratie (die Differenz zwischen »konstituierter« und »konstituierender« Macht, auf die Negri hinweist)." (Thacker 2009, S. 62 f.)

Ähnlich findet sich auch in Dammans1 Artikel A New Form of Association for the Internet Generation — part 1 zur die Kollektivität der Kollektivität Open Collective mit der Bemerkung "We can lobby our governments to update the legal framework. [...] But it will take years, if it ever happens. Plus, the problem is not limited to one country. It’s a global issue." (Damman 2014, Online) eine Kritik an Teilprozessen repräsentativer Demokratie, die zunächst durch den Aufwand und die Dauer von Entscheidungsprozessen motiviert wird. Dammans Kritik ist aber nicht nur eine Kritik an der Trägheit repräsentativer Demokratien. So wie Mancini ist auch er "passionate about redefining our institutions for the Internet era" (Damman 2016, Online) und verweist auf einen Ted-Talk, How to upgrade democracy for the Internet era, aus dem Jahr 2014, in dem Mancini fragt:

If Internet is the new printing press, then what is democracy for the Internet era? What institutions do we want to build for the 21st-century society?

Um sich einer Antwort anzunähern, stellt Mancini DemocracyOS2 vor, eine open-source Web-Anwendung, die - so Mancini - eine Brücke zwischen Bürger*innen und gewählten Stellvertreter*innen schlagen soll, um eine politische Partizipation im Alltag zu ermöglichen. Das Versprechen lautet - so Manicini: "[w]e (gemeint ist die Partido de la Red, Anm. d. Verf.) ran for elections in October last year with this idea: if we want a seat in Congress, our candidate, our representatives were always going to vote according to what citizens decided on DemocracyOS. Every single project that got introduced in Congress, we were going to vote according to what citizens decided on an online platform."3 Mit DemocracyOS präsentiert Mancini 2014 ein Werkzeug für eine politische Vision von etwas 'Kommendem'. Dieses Werkzeug besteht aus Technologien des Gemeinsamen, mit denen die Frage - wie bei der Multitude - nach den Möglichkeiten der Selbststeuerung gestellt wird. Soenke Zehle schreibt, so Wiedemann, 2006 erstmals über die Technologien des Gemeinsamen (vgl. Wiedemann 2016, S. 138). In ihrem Artikel Organizing Networks: Notes on Collaborative Constitution, Translation, and the Work of Organization beschreiben Zehle und Rossiter Technologien des Gemeinsamen als:

a way to give shape to the proliferation of democratic forms. Technologies of the common, as we understand them, are specific instances of techniques of government that mediate between strategic relations and states of domination, and in mediating contribute to the reconstitution of the common as a distributed field of potentialities [...] Such a notion of social technologies needs to be affirmed because the hype around Web 2.0 is displacing a key point: technology is not social because it supports the organization of social movements, but because it affects the constitution of the social. Nor, in case this point is not clear, are technologies of the common inherently democratic.

-- (Zehle 2008, S. 249 f.)

Die Plattform Open Collective entstand so auf einem Nährboden, der unter anderem durch eine Kritik an Repräsentation gekennzeichnet ist, gibt sich dabei aber (bislang) nicht wie Anonymous "aus als eine Kollektivität ohne Anführer_innen, an der alle Menschen gleichermaßen teilhaben können" (Wiedemann 2016, S. 135). Sichtbar wird aber dennoch der Wunsch nach einer Bewegung einer Kollektivität um Open Collective, hin zu einer "Assoziation einer Vielfalt heterogener, nicht hierarchisch angeordneter Akteure, die sich weder auf eine übergeordnete Instanz noch auf die Selbstvergewisserung über identitäre Positionen kollektiver Subjektivitäten beruft" (Pieper 2007, S. 237) - einer Multitude.

Open Collective befindet sich so nicht erst seit Mancinis Ankündigung eines "Exit to Community", im Jahr 2021, in einem Transformationsprozess, sondern ist selbst bereits von Anfang an eine Transformation, eine Bewegung, ein Vollzug, eine Kollektivität.

Blockchains and DAOs as the Modern Leviathan

Vor dem Hintergrund des von RadicalxChange Anfang 2022 veröffentlichten Artikels a speculative sketch of a dao with open collective wird nun der Blogpost Blockchains and DAOs as the Modern Leviathan, von John Danaher, in dem Blockchains und DAOs als moderner Leviathan bezeichnet werden, vorgestellt. Danaher bezieht sich auf Hobbes' Konzept des Staats und dem diesem Konzept zugrundeliegenden "Trust Problem". Um das Trust Problem zu lösen (und friedlich miteinander leben zu können) wird bei Hobbes eine besondere, einmalige Verabredung (en: agreement) getroffen, durch die ein artificial being konstituiert wird, dem alle ‘natural’ rights and powers übertragen werden. (vgl. Danaher 2016, Online). Die Verabredung heißt Gesellschaftsvertrag (social contract) und das artificial being Leviathan. Aufbauend auf dem Gesellschaftsvertrag können weitere Verabredungen getroffen werden, beispielsweise Verabredungen, die den Transfer und die Verteilung von Grundstücken betreffen. (vgl. ebd. 2016, Online)

Auf die Frage, ob es irgendeine andere technische Infrastruktur gebe, die den konzeptuellen Kern von Hobbes’s Leviathan verwirklichen könne4, gibt Danaher an, dass Blockchain Technologie ein naheliegender Kandidat sei.

Danaher führt an, dass eine Blockchain, so wie der Leviathan, eine artificial entity sei, "that is capable of managing and enforcing agreements" (vgl. ebd. 2016, Online). So wie der Leviathan Gesetze dank seines Gewaltmonopols durch Institutionen durchsetzen könne, sei auch eine Blockchain in der Lage Verabredungen durchzusetzen. Etwas unklar bleibt Danaher zum Einen hinsichtlich der Unterscheidung DAO/Blockchain und zum Anderen bei der Frage nach dem Äquivalent des Gewaltmonopols eines modernen Leviathans. Die Frage nach der Unterscheidung zwischen DAOs und Blockchains ist schwer zu beantworten, da zum Einen beide Begriffe sehr umstritten sind und zum Anderen auch Blockchains selbst bereits als DAO begriffen werden können: Vereinbarungen werden auf Basis einer vorgegebenen Menge an Regeln (smart contracts) in einem verteilten Netz getroffen. Die Funktion des Gewaltmonopols lässt sich am Beispiel von Bitcoin in dem Zusammenspiel von Kryptographie und der Proof-of-Work Methode finden: Vereinbarungen werden hier nicht durch Versicherung von Gewalt (am Mitglied der Gemeinschaft/der DAO)5, sondern durch zu hohe Kosten durchgesetzt, die einen Angriff unrentabel werden lassen sollen. 6

Eine weitere Parallele zwischen dem Leviathan und DAOs sieht Danaher in der besonderen, einmaligen Verabredung, wenn er schreibt:

An initial agreement between coders and (potentially) citizens is needed to set up the DAO. This agreement will prescribe the powers and conditions that will be enforced by the DAO. This initial set-up could involve something akin to Hobbes’s once-in-a-lifetime transfer of rights and powers.

-- (ebd. 2016, Online)

Unterstützt wird dieser Vergleich auf der Webseite https://ethereum.org/en/dao, auf der es zur Begründung, weshalb Ethereum die perfekte Grundlage für eine DAO sei, heißt: "Smart contract code can’t be modified once live, even by its owners. This allows the DAO to run by the rules it was programmed with." 7 Dieser Umstand hat letztlich auch mit dazu geführt, dass es 2016 zu dem sogenannten DAO fork gekommen ist.

Übergang von der Multitude in das Commonwealth

Die Multitude und der Leviathan stehen bei Hobbes über das Commonwealth in Verbindung. Die Multitude sei, so Hobbes und Machiavelli nach Thacker, das, was mit Gewalt regiert werden müsse. (vgl. Thacker S. 58) In Hobbes' Leviathan Teil 2 Of Common-Wealth heißt es zu dem Vorgang, wie ein Commonwealth und gleichzeitig auch der Leviathan geschaffen wird:

This is more than Consent, or Concord; it is a reall Unitie of them all, in one and the same Person, made by Covenant of every man with every man, in such manner, as if every man should say to every man, “I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy Right to him, and Authorise all his Actions in like manner.” This done, the Multitude so united in one Person, is called a COMMON-WEALTH, in latine CIVITAS. This is the Generation of that great LEVIATHAN, or rather (to speake more reverently) of that Mortall God, to which wee owe under the Immortall God, our peace and defence.

-- (Hobbes 1651, Online (Leviathan PART II. OF COMMON-WEALTH))

Leseempfehlung

Fußnoten


  1. Xavier Damman ist Mitgründer von Open Collective.
  2. Die Software DemocracyOS wird aktuell (19.03.2022) nicht weiterentwickelt. Stattdessen wird im Repository auf die Webseite https://democraciaos.org/en/ verwiesen. DemocracyOS entstand im Zusammenhang mit der Partido de la Red (en: Net Party). Gegründet wurde die Partei in Argentinien 2012 von Santiago Siri und Esteban Brenman. Bereits 2013 stellen Siri und Pia Mancini das Konzept hinter DemocracyOS bei der Mejorando.la-Konferenz einer Öffentlichkeit vor: https://www.youtube.com/watch?v=scCKzU2jQWc. Santiago Siri über DemocracyOS: https://www.youtube.com/watch?v=yGmGWZCE4h0
  3. vgl. https://www.ted.com/talks/pia_mancini_how_to_upgrade_democracy_for_the_internet_era ab Minute 10:16.
  4. Im engischen Original heißt es: "The critical question for us then becomes: is there any other technical infrastructure that can instantiate the conceptual essence of Hobbes’s Leviathan?" (Danaher 2016, Online)
  5. Die Notiz am Mitglied der Gemeinschaft gewinnt dadurch an Bedeutung, dass der CO2-Fußabdruck, der sich auch durch die Umsetzung der Proof-of-Work Methode ergibt, negative Auswirkungen auf das globale Klima hat. Diese Auswirkungen betreffen dabei nicht nur "die Natur", sondern auch den Menschen, allerdings nicht unmittelbar denjenigen, der Anteil an den versprochenen Vorteilen ihrer Verursachung hat. Das Inkaufnehmen dieses Ungleichgewichts wird als environmental racism besprochen, so bspw. auch von Timnit Gebru et al. in dem Paper On the Dangers of Stochastic Parrots: Can Language Models Be Too Big?, in dem es allerdings nicht um den Proof-of-Work, sondern um zu große Language Models (bspw. BERT) geht. Gemein ist beiden zumindest die Kritik an ihrem Energieverbrauch.
  6. vgl. https://www.coindesk.com/policy/2021/05/03/bitcoin-has-a-nonviolent-security-model/
  7. vgl. https://ethereum.org/en/dao
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Last updated on 3/21/2022